Lektion 6 von 11

Lektion 6: Einschätzen

Individuelle Gesundheitskompetenz einschätzen

Einschätzen - Beispiel 1 *
Einschätzen - Beispiel 2 *

Im Praxisalltag geraten die in den vorhergehenden Lektionen vorgestellten kommunikativen Hürden schnell in Vergessenheit, denn wir neigen dazu, die kognitiven Fähigkeiten unserer Patientinnen und Patienten zu überschätzen.

Gleichzeitig versuchen Menschen häufig, ihre Schwierigkeiten zu verbergen und signalisieren nicht, wenn sie etwas nicht verstehen. Selbst auf die direkte Frage „Haben Sie das verstanden?“ werden Sie in aller Regel ein „Ja“ erhalten, obwohl Ihr Gegenüber möglicherweise nichts oder nicht viel verstanden hat. 

Eine realistische Einschätzung der individuellen Lernvoraussetzungen Ihrer Patientinnen und Patienten bildet deshalb eine wichtige Basis für ein gelingendes Aufklärungsgespräch. Die Abfrage des individuellen Wissensstands kann dabei eine hilfreiche Strategie sein, die noch viele weitere Vorteile mit sich bringt. In den Methoden-Tipps weiter unten erfahren Sie mehr darüber. Die Gespräche in den Filmausschnitten zeigen nach einer kurzen Falleinführung, wie das konkret aussehen kann. Sie werden feststellen, dass dieser Schritt nicht viel Zeit in Anspruch nehmen muss.


Wissensstand abfragen

Den besten Einstieg in ein Aufklärungsgespräch bietet die Abfrage des jeweiligen Wissensstands. Beginnen Sie also nicht mit einem Monolog, sondern mit einer Frage! Fragen Sie Ihre Patientin bzw. Ihren Patienten, ob sie bzw. er die jeweilige Versorgungsform schon kennt oder was über das Erkrankungsbild bereits bekannt ist. So können Sie mit Ihrer Aufklärung dort ansetzen, wo das Wissen der Patientin bzw. des Patienten endet und sparen sich unnötige Ausführungen.

Gleichzeitig können Sie in Erfahrung bringen, auf welchem Sprachniveau sich Ihr Gegenüber bewegt und wieviel Komplexität Sie ihm zumuten können. Sie lernen, welche Ausdrücke und Bezeichnungen Ihr Gegenüber verwendet und können diese bekannten Begrifflichkeiten später im Gespräch aufgreifen. 

Viel mehr noch: Durch den Abruf des vorhandenen Wissens aktivieren Sie Lernprozesse bei Ihren Patientinnen und Patienten: Das Verstehen von Informationen ist ein Prozess, an dem auch unsere Erfahrungen und unser Wissen beteiligt sind. Um Informationen zu Wissen werden zu lassen, müssen sie kognitiv verarbeitet und im organisierten Erfahrungswissen abgelegt werden (Enkodierung).

Ob Informationen tatsächlich von den Patientinnen und Patienten verstanden und erinnert werden können, hängt also auch davon ab, wie gut sie sich in bestehende kognitive Strukturen einordnen lassen. Durch eine kurze Frage nach dem Vorwissen Ihres Gegenübers wird die kognitive Organisation neuer Wissensbausteine erleichtert, neue Informationen lassen sich besser einordnen, verknüpfen und erinnern.

Red Flags

Untersuchungen zur Alphabetisierung Erwachsener zeigen, dass sich die Fähigkeit zu lesen und zu schreiben auf die Informationsverarbeitung auswirkt und die kognitiven wie auch die sprachlichen Fähigkeiten eines Menschen beeinflusst. Patientinnen und Patienten mit eingeschränkten Lese- und Schreibfähigkeiten bedürfen im Aufklärungsgespräch daher besonderer Aufmerksamkeit. Für viele Menschen ist dieses Thema jedoch mit Scham besetzt und so versuchen sie nicht selten, Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben zu vertuschen. Umso wichtiger ist es, in der Kommunikation auch Hinweise achtsam wahrzunehmen, die auf eine eingeschränkte Literalität hindeuten könnten. Das Red-Flags-Konzept aus den USA (Osborne 2013) beschreibt solche Hinweise:

  • Ihre Patientin bzw. Ihr Patient vermeidet es unter einem Vorwand, Informationen zu lesen oder Formulare auszufüllen (z.B. Ich habe meine Brille zu Hause vergessen), füllt Formulare unvollständig oder inkorrekt aus.
  • Ihre Patientin bzw. Ihr Patient wird von Angehörigen begleitet, die das Lesen und Schreiben übernehmen und stellt auffällig wenige Fragen.
  • Ihre Patientin bzw. Ihr Patient kann Namen und Zweck von Medikamenten nicht benennen und erkennt sie anhand von Farbe und Form.
  • Ihre Patientin bzw. Ihr Patient nimmt wiederholt Termine nicht oder zur falschen Zeit wahr, verhält sich möglicherweise auch unangemessen (z.B. übertriebenes Herumalbern, emotionale Überreaktion).

All diese Anzeichen können natürlich auch ganz andere Ursachen haben und eine Stigmatisierung der Patientin bzw. des Patienten sollte unbedingt vermieden werden. Die Sensibilisierung für derartige Warnsignale ist jedoch ein guter Ausgangspunkt für das Erkennen einer eingeschränkten Gesundheitskompetenz. 


* Diese Filme zeigen spezifische Kommunikationssituationen, um die Teach-Back-Methode zu illustrieren. Im individuellen Fall müssen bei der Behandlungsplanung immer patientenseitige Faktoren und aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse berücksichtigt werden. Die Filme wurden aus Eigenmitteln finanziert und stellen keine Werbung für Medikamente oder Produkte dar.